Janine B. Müller
    Gedanken zu Kunst und Leben


Malerei - ein Abenteuer des Bewusstseins  
(erschienen in der August-Ausgabe 2008 der Berliner Zeitschrift SEIN)

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Sie haben es schon erlebt. Im selbstvergessenen Tanz, in dem eine Bewegung aus der Vorherigen fließt. Im schöpferischen Zusammenspiel in einem Gruppenprozess, in dem jeder den genau richtigen Teil zum Puzzle beiträgt. Beim Malen eines Bildes, wo die Inspiration am Anfang steht und dann eine Farbe, eine Form die nächste ergibt, bis das Werk sich in einem schöpferischen Rausch vollendet.
Die Quelle sprudelt; wir sind angeschlossen; wir sind im Fluss. Wir sind durchlässig. Wir haben keine Angst. Wir sind ganz gegenwärtig in diesem Moment. Wir denken nicht. Die Trennung ist aufgehoben. Wir haben unsere beschränkte Persönlichkeit verlassen.

Ein auf diese Weise transparentes Bewusstsein ist die Basis für kollektive Weisheit. Das Teil schwingt mit im Ganzen; es ist fähig zur Wahrnehmung und zur Resonanz, fähig, aus dem Ganzen aufzunehmen und in das Ganze hinein zu geben.

Ein transparentes Bewusstsein haben wir nur selten, eher zufällig. Im Alltagszustand ist unser Bewusstsein beschränkt durch unsere Vorlieben, Abneigungen, Standpunkte, Konzepte. Wir denken, wir haben Persönlichkeit entwickelt. Das bestimmt unsere gesamte Welterfahrung, unser Lebensgefühl. Wenn Zusammenarbeit, egal ob im Fußballteam oder in der Firma jedoch nicht geprägt ist durch persönliche Eitelkeiten, sondern durch die Wahrnehmung eines vernetzten Bewußtseins, kann ein ganz anderes Potential frei werden.

Wie kann die höchste Möglichkeit, die gerade da ist, gefunden werden? Wie geht man mit einem Mehr an Erkenntnis, an Energie, an Hoffnung aus der Situation hinaus als man hineingegangen ist? Wie lernt man, daß man gewinnt, wenn man das Ego zurückstellt?

In der Malerei erlebe ich ein Werkzeug, die Fähigkeiten zu erwerben, die ein Mensch braucht, um sich an der entstehenden Zukunft zu beteiligen. Beiseite treten um dem Werdenden Raum zu geben.

Die Leinwand des Künstlers ist ein ungefährliches, gleichzeitig machtvolles Instrument die Filter zwischen sich selbst und der weiteren Wirklichkeit der Welt kennen zu lernen und los zulassen. Blockaden sind fühlbar und deutlich zu sehen, im Widerstand, in Langeweile. Den kreativen Fluss fühlt und sieht man ebenfalls, in einem Ausmaß, über das der Maler sagt: "Ich staune über das Werk. Das habe nicht ich gemalt." Er/sie war Werkzeug der Quelle. So wie auch manchmal ein Gruppenprozess "trotz der Menschen" gelingt und eine größere Kraft die Führung übernimmt.

Wie können wir unsere Persönlichkeit in ein offenes System verwandeln? Lassen sich durch Malerei zukunftsschaffende, kooperative Fähigkeiten ausbilden?

Aus der Zukunft handeln

"Aus der Zukunft handeln", so kann man die Kunst nennen, die den Entstehungsprozess eines Bildes lenkt. Sie beginnt mit dem prekären Moment, wenn ein Maler vor der weißen Leinwand steht. Die Bedeutung dieses Moments ist mir in einem anderen Bereich begegnet. Otto Scharmer, amerikanischer Unternehmensberater, spricht von der Führung vor der leeren Leinwand. Je komplexer die Herausforderungen an eine Führungskraft sind, desto weniger helfen die Erfahrungen der Vergangenheit weiter. Die in Entstehung begriffene Zukunft muß und kann erspürt werden.
So auch am Beginn eines Bildes. Schon die Grundierung ist die Verbindung aus Hingabe und Absicht. Konzepte loslassen - Keine Ahnung, was jetzt kommt. Aber ich bin da, voll und ganz. Ich habe mich an den Punkt begeben, an dem alles erst entsteht. Ich weiß nicht, wo es hingeht und tue trotzdem den nächsten klaren Schritt. Picasso sagt es so: "Wenn ich wüsste, was ich malen will, warum sollte ich es dann malen?".

Keine Idee - aber den Drang zu malen, zu schaffen. Ich sehe die Farben rot, ocker, rosa - und fühle mich wohl mit ihnen. Ich verteile sie als Grundierung auf der Leinwand. Wie geht es weiter? Ich tauche den Pinsel in schwarz, schließe die Augen und lege los. Ich stelle das Ergebnis auf den Kopf, auf beide Seiten und schaue. Was kommt mir entgegen? Was will gemalt werden? Ich sehe drei Frauen, die zusammenstehen und miteinander tuscheln. Ich gestalte sie aus und freue mich an ihnen.
Ich gestalte in eine Zukunft hinein, tastend, bis sie antwortet und etwas erscheint. Sie antwortet fast immer, und ich bin entzückt von der Magie und Weite der Existenz.

Malen ist ein Erkenntnisweg. Wir tauchen intimst ein in das Werden eines Bildes. Wir sind Künstler und Kunstwerk gleichzeitig, bewegt von der Zukunft, die werden will. Wir üben, beschränkende Vorstellungen fallenzulassen und in uns die Öffnung für das Unbekannte herzustellen.

Sich der Führung anvertrauen und authentische Gegenwärtigkeit entwickeln

Innere Führung erfahren Menschen, deren Geist und Herz offen sind. Führung ist die Brücke zwischen mir und dem Ganzen, zwischen mir und der Zukunft.
Ich vertraue mich der Führung an, wenn ich der Intuition folge. In der Malerei und im Leben entstehen so Schöpfungen, die sich der individuelle Geist nie hätte ausdenken können.

Zum Zusammenspiel mit der Führung gehört intensives Wahrnehmen dessen, was ist. Wo ist viel Energie? Bei welcher Farbe, welchem Motiv, welcher Form, welcher Technik? Bin ich selbst ganz da? Das, was ruft, ist kein Zufall. Aus welchem größeren Zusammenhang das Bild kommt, sehe ich oft erst, nachdem es da ist. Das Bild "Vier Generationen", gemalt in der Weihnachtszeit, zeigt drei Frauen in marienähnlichen Gewändern und ein Kleinkind; und in meiner Familie wird eine Urenkelin erwartet. Zu Beginn des Bildes war nichts davon klar außer einer Grundierung mit Malerrolle in weiß und rosa.

Neben der Intuition ist die Stimme des Herzens ein ganzheitlicher Wegweiser, der den Verstand herausfordert und über ihn hinausführt. Wo der Verstand bewertet, zum Beispiel, was wahre Kunst ist, oder wie man sein muß, um erfolgreich in einer Gruppe zu agieren, erlaubt das Herz keine Umwege und ist einfach und eindeutig. Ich male, was ich fühle.
An einem persönlichen Trauertag sehe ich das Bild eines liegenden Rehs. Sein gebogener Rücken gibt mir Geborgenheit, und während ich es male, fühle ich es und Zärtlichkeit entsteht. Meinen Dank an Franz Marc.

Was als Blume gedacht war, für eine Ausstellung "Strahlkraft der Blüten", kommt durch eine "Zufallsgrundierung" als kleiner Elefant daher. Er ist deutlich zu sehen; er rührt mein Herz. Ich muss ihn nehmen. Auch den Bildtitel: "Kleiner Elefant auf dem Weg nach Hause".Diese authentische Gegenwärtigkeit führt durch das Herz zu Lösungen, zu Geschöpfen, die so noch nie existiert haben.

Gemeinsame Kreativität

Der Schöpfungsvorgang zeigt sich auch deutlich, wenn mehrere Menschen in einem Raum gleichzeitig malen. Es entsteht ein vernetztes Bewußtseinsfeld, ein gemeinsames Schwingen. Jemand macht eine Pause und tritt von seinem Bild zurück. Das erinnert eine Malerin daran, daß sie gerade ganz verbissen malt. Jemand sagt selbstvergessen vor sich hin "Ich nehme jetzt Ölkreiden" - und inspiriert jemand anderen dazu, Ölkreiden zu nehmen. Mit einem transparenten Bewußtsein lauschen wir auf jede Inspiration aus dem Ganzen. Die Einzigartigkeit des entstandenen Bildes ist aus dem Ganzen geboren und strahlt in das Ganze hinein.

Auch beim gemeinsamen Malen steht jeder Einzelne vor seiner Staffelei, vor seinem eigenen Altar, und lauscht auf die Sprache der Quelle. Man sieht es dem Bild an, ob der Künstler gerade im Fluss oder in Gedanken ist. Sich zu verstecken ist nicht möglich. Die Nacktheit der Offenbarung erfordert Respekt vor der Verwundbarkeit des anderen, vor seinen Auf- und Untergängen. Es entsteht ein gemeinsames Vertrauen in den Strom des Werdens. In diesem Klima breiten sich Schöpfungskraft und Intimität aus.
Wenn wir Schöpfer sind am tiefsten Punkt unseres Wesens, sind wir gleichzeitig an der Quelle des Ganzen. In der Malerei wird dieser Entstehungspunkt erfahren. Ist man sich dieses Punktes sicher geworden, hat man auch in anderen Situationen die Ruhe, und die Neugierde, dem Raum zu geben, was sich zeigen will.

Gemeinschaftsbilder

Malen verbindet, weil es in den Raum hinter die Definitionen führt, die suggerieren, dass wir wissen. An einem Gemeinschaftsbild malen alle. Gemeinsam sinkt man in einen tieferen Raum, in dem es kein Rechthaben und überhaupt weniger Egoprofilierung gibt. Gemeinschaftsbilder können eine Erfahrung initiieren: Wir können zusammenarbeiten - als Team. Ich komme dir gerne entgegen. Ich stimme mich gerne auf das Ganze ein. Und hier kommt meine Eigenheit durch. Ein Beispiel: Jeder hat eine Farbe und benutzt nur diese Farbe. Alle malen auf ein 4 qm großes Papier. Bei einem Klang rücken alle weiter und malen an einer anderen Stelle weiter, bis die Gruppe fühlt: jetzt ist es fertig. Das gewisse Glück nach Gemeinschaftsbildern könnte heißen: Ja, ich habe es begriffen. Ich brauche dich bzw. dein blau um mein gelb herum, damit es so richtig leuchtet. Oh, was für ein verzaubender Gesamtklang. Das haben wir gemalt? Was packen wir als nächstes an?

Alle Individuen sind an etwas Größeres angeschlossen und mehr als die Summe der Teile kann entstehen; kollektive Intelligenz entfaltet sich.

Malen ist Gebet - Malen ist Lieben.

Wir Menschen teilen die Sehnsucht, jenseits von Begriffen, von Abgrenzungen zu Hause zu sein. Ein auf das Werden ausgerichtetes künstlerisches Bewußtsein löst Grenzen auf.

Malerei ist eine Liebe mit dem Ganzen, mit Bergen, Pflanzen, Roststellen auf Metall, Gesichtern. Malerei ist Gebet. Malerei ist eine der großartigsten Wege, das Ego aufzulösen, sich hinzugeben und sich vor der Existenz zu verneigen, in Demut und Größe gleichzeitig. Leonardo da Vinci`s Mona Lisa ist sein Geschöpf und trägt gleichzeitig ein Geheimnis in sich, dass größer ist als seine Person. Ein Bild zu malen und sich dabei in das Wesen einer Pflanze, eines Gesichts hinein zu versenken, kann Zärtlichkeit gegenüber der Existenz auslösen. Ich begebe mich mit meiner ganzen Aufmerksamkeit zwischen jedes Blütenblatt, um seinen Winkel und seine Lichtverhältnisse zu erkunden, oder in die Bauweise eines Nasenflügels. Intimität scheint vom Bild zurück, und von der Pflanze selbst, wenn ich sie draußen sehe.

Vielleicht ist Malerei auch für Sie ein Weg zum Freiwerden eines weiten, empfänglichen Bewusstseins, empfänglich für das, was aus der Zukunft in die Gegenwart hinein scheint und geschaffen werden will. In Projekten, Firmen, Gruppen, in Organisationen, Familien, Gemeinschaften und Völkern. Für die Heilkraft und Schönheit des Lebens auf der Erde, und die tausend Chancen jeden Tag.


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